All unser Leben

für Klarinette und Klavier (2021)

(15min)

 

Information

Das Stück ist inspiriert von dem Gedicht „September II“ von Eva Strittmatter. Ihre Sprache ist voller Sinneseindrücke: Licht, Farben, Klänge und Gerüche mischen sich zu einer nostalgischen Metapher über das Leben. Die Sinnlichkeit ihrer Sprache wollte ich in eine Sinnlichkeit des Klanges übersetzen.

Im ersten und dritten Satz bilden flüchtige, zarte, harfenähnliche Klänge im pianissimo des Klaviers den Hintergrund für lange Töne der Klarinette. Ein ständiger, aber unregelmäßiger Farbwechsel, ein dunstiges Flirren stellt sich ein. Hauchdünne Fäden entspinnen sich, fordern zum genauen Hinhören auf.

Der zweite Satz entfaltet reichhalte, dichte Harmonien aus einem wiederholten Pattern von vier Akkorden.

Text

September II


September ist der Sehnsuchtsmonat
Mit Fernendunst im frühen Licht.
Das Leben wird schmerzlicher fühlbar:
Summe von Säumnis und Verzicht.

September ist der Täuschungsmonat:
Daß alles noch einmal beginnt.
Verwirrung wie vor einem Frühling.
Und wir: als ob wir ewig sind.

Wir gehn durch Silber und durch Bläue
Und fast verwandelt von der Luft,
die lind ist wie die Luft der Ferne
Und wie gewürzt vom Bitterduft

Der Nüsse und nur hin und wieder
Von einer Rose aufgerührt.
September - Mond der Tagessterne
Im Taugekräut. Wie scharf man spürt

An solchen Morgen: alles wissen,
Noch Mensch sein und schon nicht mehr jung.
Erinnrung ist in unsren Küssen.
In jedem Wort: Erinnerung.

All unser Leben ist seit langem
Ein dreigefädelter Gesang:
Hoffnung und Sehnsucht zirpen zaghaft.
Von der Erinnerung kommt der Klang.

Die vollen und die tiefen Töne
Kommen von dem, was mit uns war.
Doch im September glänzt das Schöne
Noch einmal uns auf Haut und Haar.


aus: Eva Strittmatter. Sämtliche Gedichte. Erw. Neuausgabe. Aufbau Verlag, Berlin 2015
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2015


Note

Soft, elusive, harp-like sounds of the piano are combined with long-held clarinet notes that fade in and out. Not really a melody but a constantly shifting color change with little accents. The music reacts to the poem “September II” by Eva Strittmatter: she talks about nostalgia, about the slowly approaching end and subtle scents in the air. The poem translates to:

September is the month of longing
with distant haze in early light.
Life becomes more painfully palpable:
Sum of failure and renunciation.

September is month of deception:
That everything begins again.
Confusion as before a spring.
and we: as if we are eternal.

We pass through silver and through blueness
almost transformed by the air
that is mild as the air of distant places
and as if spiced by the bitter scent

Of nuts, and only now and then
stirred by a rose.
September - moon of diurnal stars
in shrubs of dew. How sharply one feels

on such mornings: to know all things,
to still be human and no longer young.
Remembrance is in our kisses.
In every word: Remembrance.

 All our live has been for long
a threefold threaded song:
Hope and longing shyly chirp.
From remembrance comes the sound.

The full and the deep tones
Come from what was with us.
But in September beauty shines
once more on our skin and hair.